DAS MITTELMEER –
SEHNSUCHTSORT UNTER DRUCK

 

Eingefasst von drei Kontinenten ist das Mittelmeer nicht nur ein geographischer Raum; es ist Geburtsstätte des arabisch-europäischen Kulturraums und Sehnsuchtsort für viele Mil- lionen Menschen. Dem aktuellen Spannungsfeld zwischen Traumziel für Erholungssuchende und Flüchtlingsfalle für Tausende von Migranten zum Trotz, stand dieses Meer Jahrtausende lang für das Verbindende und nicht für das Trennende. »Dauer und Größe seiner Geschichte«, schrieb der britische Diplomat und Schriftsteller Lawrence Durrell, »lassen uns träumen, es sei größer als es in Wirklichkeit ist«. Seit dem 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung (v.u.Z.) sagen die Griechen »unser Meer«. Dem schlossen sich später die Römer an: »mare nostrum«.

Dass es so kam, war keineswegs zwangsläufig. Homo sapiens musste dafür einen weiten Weg zurücklegen. Nach mehreren gescheiterten Versuchen konnte er erst vor etwa 50.000 Jahren endgültig an seinen Küsten sesshaft werden. Er verdrängte dabei nach und nach die schon länger hier ansässigen Neandertaler bis in ihre letzten Schlupfwinkel auf Gibraltar und den Peloponnes. Um 10.000 v.u.Z. begann mit der Entwicklung einer kundigen Seefahrt das Hüpfen von Insel zu Insel und die systematische Nutzung der natürlichen Ressourcen des Meeres. Dass Kultur auch das Umgestalten physischer Räume und der darin lebenden Natur nach sich zieht, leuchtet heute selbst dem flüchtigen Touristen ein, der das Mittelmeer für zwei Wochen im Jahr zu seinem Reiseziel erklärt.

Bei aller Faszination ist unübersehbar, dass unsere Spezies das Mittelmeer wie kein anderes Meer der Welt seit nunmehr Jahrtausenden massiv ausbeutet und belastet. Schäden durch Fischerei mit Grundschleppnetzen und Langleinen sind inzwischen selbst in einer Tiefe von mehreren hundert Metern chronisch. 93 % seiner Fischbestände werden als »critically depleted« (kritisch ausgebeutet) bezeichnet. An den Küsten seiner 23 Anrainerstaaten (inkl. UK-Gibraltar und Palästina) gibt es 600 Städte mit jeweils über 10.000 Einwohnern. 30 % des weltweiten Schiffverkehrs durchkreuzt das Mittelmeer. 70% aller Touristikaktivitäten konzentrieren sich auf seine Ufer; jeden Sommer wird die Zahl der 143 Millionen hier lebenden Menschen durch Urlauber mehr als verdoppelt. Zu allem Überfluss ist es aufgrund seiner speziellen Hydrographie ein »Konzentrationsbecken«, das Umweltschadstoffe förmlich ansaugt und für viele Jahrzehnte zirkulieren lässt. Durch diesen gewaltigen Druck auf die Natur wurde im Mittelmeer – wie fast überall auf der Welt – eines der größten Artensterben der Weltgeschichte im Gang gesetzt. Nicht wenige Vertreter der Mittelmeerfauna und -flora stehen auf der unrühmlichen Roten Liste von insgesamt mehr als 17.000 Arten, deren Bestände als gefährdet oder unmittelbar vom Aussterben bedroht gelten.

Für den Landbereich unseres Planeten gibt es inzwischen ein gewisses Umweltbewusstsein. Dass auch das Meer ein schützenswertes Gut ist, ist bei vielen noch nicht angekommen. Manches könnte schon heute besser sein. Oft fehlt es lediglich am politischen Willen, bestehende Gesetze auch durchzusetzen. Dass die UNESCO 2010 zum »Internationalen Jahr der Biodiversität« ausgerufen hat, blieb eine symbolische Geste. Nur wenige konkrete Taten folgten. Dringend notwendig wäre ein professionelles Management der Meere. Immerhin wurden mit dem »Mediterranean Action Plan« sowie der »Barcelona Konvention« einige gute Ansätze für den »umfassenden Schutz« des Meeres formuliert. Allerdings sind die wenigsten davon auch ratifiziert. Und das 2004 erklärte Ziel, bis zum Jahr 2010 etwa 10 % seiner Fläche und Küste als »Marine Protected Area« (MPA) auszuweisen, wurde nicht erreicht. Das Mittelmeer wird weiterhin und fast ohne Beschränkung einer skrupellosen, EU-subventionierten industriellen Fischerei und den vielen anderen überlassen, die es als Müllkippe missbrauchen. Solange die Gewinne höher ausfallen als drohende Strafen, wird sich daran wenig ändern – obwohl die Wissenschaft mittlerweile belegen kann, dass das Meer den schonenden Umgang mit seinen Ressourcen belohnt.

Dabei ist die Neugier auf das, was im Meer lebt, uralt. Während andernorts Mumien gewickelt wurden, machten sich an mediterranen Ufern griechische Naturphilosophen – von Aristoteles bis Xenophanes – bereits Gedanken über die Fortpflanzung der Seepferdchen oder untersuchten die fossilen Abdrücke vergangener Epochen. Insofern war das Mittelmeer auch die Geburtsstätte der Meeresbiologie. Da verzeihen wir es, wenn sich die antiken Hobbybiologen zuweilen irrten, wie etwa in der Annahme, dass der Mensch vom Hai abstamme.

Mit Pionieren wie dem Neapolitaner Cavolini oder dem Franzosen Edwards begann die Ära der wissenschaftlich betriebenen Meeresbiologie. Ab dem 18. und 19. Jahrhundert wagten sich von Neugier getriebene Naturforscher selbst in die fremde Welt hinab, zumeist mit einfachster Tauchgerätschaft. Entlang der mediterranen Küste wurden die weltweit ersten meeresbiologischen Stationen gegründet. Die berühmteste, die »Stazione Zoologica di Napoli«, galt bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts als das »Mekka der Meeresbiologie«. Parallel zur Wissenschaft entwickelte sich die Tauchtechnik weiter. Und seit Hans Hass oder Rupert Riedl sind Meeresbiologen zugleich als Taucher unterwegs, um ihre Forschungsobjekte unmittelbar vor Ort zu studieren.

Weil Taucher Umweltschäden direkt wahrnehmen, haben sie eine besondere Verpflichtung, immer wieder auf die Bedrohungen der verborgenen Unterwasserwelt aufmerksam zu machen. Gewiss, wir alle tragen mit unserer Lebensweise dazu bei, dass sich das ökologische Räderwerk der Meere mehr und mehr verändert; nicht zuletzt aufgrund der globalen Klimaerwärmung, der fortgesetzten Uferbebauung und der nicht nachlassenden Verschmutzung. Es ist eine Schande, dass viele der hier vorgestellten Lebewesen in ihrer Existenz bedroht sind und eine ungewisse Zukunft haben.

Dieses Buch ist in der Überzeugung geschrieben, dass wir die komplex miteinander verwobenen biologischen Prozesse am ehesten dann verstehen und respektieren lernen, wenn wir neben den selten gewordenen, charismatischen Tieren, wie z. B. Meeresschildkröten, Walen und Haien, auch die ökologisch bedeutsamen, aber nicht in der öffentlichen Wahrnehmung stehenden Geschöpfe der marinen Organismenwelt beachten. Wir glauben, dass eigenes Erleben der mediterranen Meereswelt – gepaart mit der Bewunderung für die an vielen Tauch- plätzen immer noch vorhandenen Fülle und Schönheit ihrer Formen und Farben – die stärksten Plädoyers für ihre Rettung sind. Schließlich sehen Taucher Dinge, von denen andere nur träumen. Vielleicht gelingt es uns Tauchern über das Aufzeigen ökologischer Zusammenhänge, allmählich Einfluss auf das Verhalten von Menschen und Gesellschaften zu nehmen, indem wir immer wieder auf die dringend notwendige Einrichtung von eng miteinander vernetzten Meeresschutzgebieten hinweisen. Wenn dieses Buch hierzu einen kleinen Beitrag leisten kann, hat sich der Aufwand gelohnt.

WORUM GEHT ES IN DIESEM BUCH?

Permanent verändern wir unsere Welt und unterschätzen dabei chronisch den Wert der Meere. Doch die Sensitivität für ihre ökologischen Räderwerke wächst und wir beginnen zu verstehen, wie sie funktionieren. Indes, unsere vielen Gespräche mit Tauchern und angehenden Biologen haben gezeigt, dass sie häufig nur vage Vorstellungen davon haben, welche wechselseitigen Beziehungen Organismen miteinander ein- gehen; welche Umweltfaktoren Lebewesen an ihre Standorte binden und warum manche eine eng begrenzte Verbreitung haben, während andere einem zwischen 1–100 Meter immer wieder vor die Maske schwimmen. Zudem wirken Meeresorganismen häufig bizarr und fremdartig auf Landbewohner, selbst wenn diese seit Jahren tauchen. Wir wollen deshalb typische Pflanzen und Tiere des Mittelmeers vor allem als Artengemeinschaften in ihren jeweiligen Teillebensräumen präsentieren und nicht, wie in Bestimmungsbüchern üblich, systematisch sortiert. Vielmehr gruppieren wir sie gemäß ihrer biologischen Funktionen, die sie im Ökosystem Mittelmeer einnehmen. Dabei fokussieren wir auf einen kleinen, ökologisch jedoch sehr bedeutsamen Ausschnitt der mediterranen Unterwasserwelt,

das küstennahe Biotopsystem im Bereich der Felsenküste – ausgehend von ihrem Ufersaum bis zu einer Tiefe von 100 Meter. Vor allem unterhalb der 50 Meterlinie, im Bereich des dämmrigen Zwielichts, gibt es beeindruckende Oasen der biologischen Vielfalt, die durch vielerlei menschliche Einflüsse stark gefährdet sind. Als Hotspots der Biodiversität stellen sie ein besonders schützenswertes biologisches Kleinod der mediterranen Unterwasserwelt dar, das den meisten Sporttauchern verborgen bleibt.

Für eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Ökologie mariner Lebensgemeinschaften, der biologischen Meereskunde und weiteren biologischen sowie historischen Aspekten der mediterranen Welt, verweisen wir auf die hervorragenden Werke von Cyprian Broodbank, Tim Flannery, Richard Hofrichter, Konrad Martin, Jörg Ott, Ulrich Sommer. Ihre Monographien und die Originalarbeiten vieler weiterer Autoren, aus denen wir Informationen gewonnen haben, um unsere eigenen Beobachtungen zu ergänzen, werden im ausführlichen Quellenverzeichnis zitiert.

WAS MACHT DAS MITTELMEER SO INTERESSANT?

Auf allen Seiten von Land umgeben, hat das Mittelmeer seine heutige Form erst allmählich erhalten und es verändert sich aufgrund der Plattentektonik kontinuierlich weiter. Tatsächlich wird es durch den steten Druck der Afrikanischen Platte mit jedem Jahr ca. 2 cm kleiner. Heute erstreckt es sich über 3.800 km in Ost-Westrichtung und zwischen 400 und 750 km von Nord nach Süd. Mit seinen 2,5 Millionen Quadratkilometern (ohne die Anhängsel Schwarzes – und Asowsches Meer) entspricht es weniger als einem Prozent der Gesamtfläche aller Meere. Der Dichter Lawrence Durrell nennt es deshalb ein »absurd kleines Meer«; warum also sollte man diesem bescheidenen Anhang des Atlantischen Ozeans besondere Aufmerksamkeit schenken? Warum fokussieren wir auf das küstennahe Biotopsystem? Der erste Beweggrund ist trivial: Seit Jahrzehnten tauchen wir hier – vor allem im Rahmen meeresbiologischer Exkursionen der Universität Heidelberg und des VDST. Wir sind daher sicher, es gut zu kennen. Andere Überlegungen sind objektiver und mögen insofern überzeugender sein:

1. In den mediterranen Küstenbiotopen befinden sich die bevorzugten Tauchreviere

Die Vielfalt an Lebensräumen und Lebensgemeinschaften bringen Unterwasser-Landschaften hervor, die für Taucher besonders attraktiv sind. Einige davon sind weltweit einzigartig. Seegraswiesen auf weichen Sandböden, Tierwälder mit ihren Korallengärten an steilen Felswänden und auf tiefgelegenen Plateaus sowie die Kalkalgenbänke (Maerl beds) des Küstendetritus sind drei prominente Beispiele von vielen.

2. Ökoingenieure schaffen Lebensraum für unzählige Arten

Moostierchen, Seegräser oder Kalkrotalgen spielen für die Erschaffung und Erhaltung des Ökosystems Mittelmeer eine überragende Rolle. Trotz ihrer Bedeutung für das Biotopsystem und ihrer großen Anzahl werden sie gern übersehen. Wir wollen auch ihnen »eine Stimme« geben. Die Mehrzahl der präsentierten Faunen- und Florenelemente stammt aus dem Zentrum des westlichen Mittelmeers: Es bietet die am besten zugänglichen Unterwasserlandschaften und weist die höchste Artenfülle aller Mittelmeerregionen auf.

3. Die mediterrane Lebenswelt steckt voller Überraschungen

Wir wollen nicht nur die ästhetische Schönheit seiner Bewohner darstellen, sondern auch beispielhaft ihre faszinierende Biologie und Ökologie adressieren. Häufig offenbart sich die Raffinesse der Lebensweisen erst, nachdem wir ihre Biologie kennen, wie beim optisch eher unscheinbaren Igelwurm Bonellia. Dann aber staunen wir umso mehr über die Vielfalt der biologischen »Ideen«. Dafür erläutern wir einige Begriffe

und Konzepte aus den Bereichen »Meeresbiologie« und »-ökologie«. Sie sollen dabei helfen, das Funktionieren des Systems »Mittelmeer« als Teil unserer Biosphäre zu verstehen.

4. Seine Lage und Klima sind nahezu konkurrenzlos

Seit etwa 13,5 Millionen Jahren ist das Mittelmeer ein nahezu geschlossenes Meer: ein »Mare Internum« bzw. »Mediterraneum«; ein binnenländisches »Meer in der Mitte«. Doch es schlägt mit seiner Größe alle »Rivalen«: Es übertrifft das Rote Meer um das Fünffache und sticht ohne Mühe die Fläche des Golfs von Mexico oder der Hudson Bay aus. Es überbietet alle mediterranoiden Konkurrenten, wie die Karibik, das Süd- chinesische Meer und die Küsten Süd-Westaustraliens hinsichtlich der Länge seiner Ost-West Ausdehnung.

Nicht weniger außergewöhnlich ist das Mittelmeer aufgrund des semi-ariden Klimas (= heiß im Sommer, feucht im Winter; »Ölbaumklima«), das über seine gesamte geographische Breite und Länge vorherrscht. Es ist damit das größte von weltweit gerade einmal fünf mediterranoiden Gebieten, die man zusammenbekommt, wenn man an die erfolgreichen Weinbaugebiete Mittelchiles, der Kapprovinz Südafrikas, sowie Süd- und Südwestaustraliens denkt. Ihre Existenz verdanken diese Klimazonen besonderen Bedingungen, hervorgebracht durch eine Kombination aus ozeanischen Strömungen und Winden sowie Gebirgsbarrieren in Meeresnähe. Maritime Kontaktzonen zwischen dem Mediterran und seinen Nachbarräumen gibt es nur wenige. Sie sind durch Meerengen und teils starke Strömungen markiert.

Im Nordosten ist es über den 40–70 Meter flachen Bosporus-Dardanellen-Silt mit dem Schwarzen Meer und dem Asowschen Meer verbunden; doch diese enden als Sackgasse in Donau, Dnjepr und Don. Die neuzeitliche Anbindung an das Rote Meer über den Suez-Kanal ist mehr von biogeographischer als von ozeanographischer Bedeutung (s. u.). Somit bleibt die 14 km breite und nur wenige hundert Meter tiefe Straße von Gibraltar die wichtigste Nabelschnur zum großen ozeanischen System.

5. Seine Hydrologie ist einzigartig

Die Straße von Gibraltar bestimmt als Nadelöhr mit Strömungsgeschwindigkeiten von bis zu 6 Knoten (=11 km/h), die gesamte Hydrologie des Mittelmeers und damit zugleich wesentliche Charakteristika seiner Ökologie: Am östlichen Ende der 60 km langen und 12,9 km breiten Straße von Gibraltar (bzw. Cap Trafalgar oder Cap Spartel) verhindert die nur 286 Meter tiefe Tarifaschwelle, dass südwärts strömendes 4°C kaltes und nährstoffreiches Tiefenwasser aus dem Nordpolarmeer ins Mittelmeer eindringt. Damit fehlt ein wichtiger Nachschubweg für Nährstoffe. Auch die Wassertemperatur des Mittelmeers nimmt nicht in dem Maße mit der Tiefe ab, wie es in den meisten anderen, auch tropischen Meeren, der Fall ist. Selbst in der mediterranen Tiefsee beträgt die Mindesttemperatur ganzjährig vergleichsweise warme 12–13° C. Bisher ging man davon aus, dass diese ungewöhnlich hohe Temperatur des Tiefenwassers eine Verarmung der mediterranen Tiefseefauna zur Folge habe. In der Tat leben weniger als 9 % der bis- her bekannten Mittelmeer-Organismen unterhalb der 1.000 Meter Marke.

So scheint es atlantischen Tiefseeformen offenbar schwer zu fallen, sich zu etablieren. Den kälteliebenden Spezialisten aus dem Atlantik ist es im Mittelmeer vielleicht schlicht zu warm. Jedoch ist es für ein abschließenden Urteil möglicherweise zu früh; zu wenig erforscht ist die mediterrane Tiefsee, aus der immer wieder überraschende Erkenntnisse ans Licht befördert werden. Wie kürzlich erst, als bekannt wurde, dass etwa 45 % der weltweit bekannten Tiefsee-Hydromedusen in mediterranen Canyons leben. Das Mittelmeer ist, damit es bestehen bleibt, vom großen Ozean im Westen abhängig. In Folge der hohen Sonneneinstrahlung im Sommer und seiner starken trockenen Winde in Herbst und Winter ist es einer hohen Verdunstungsrate ausgesetzt (3.500 km3/Jahr). Regenfälle und auch die wenigen großen Flüsse können diesen Verlust nicht ausgleichen. Die größten Zuflüsse (Rhone, Po, Nil, Ebro) steuern nur 350 km3/Jahr bei, die Regenfälle etwa 850 km3/Jahr. Es bleibt ein beachtliches Defizit von 2.300 km3/Jahr.

Über die Gesamtfläche des Mittelmeers ausgebreitet, entspricht das einer etwa ein Meter hohen Wassersäule. Dieser Verlust wird in erster Linie durch den kalten, weniger salz- haltigen Zustrom aus dem Atlantik (2.100 km3/Jahr) ausgeglichen und nur minimal durch zufließendes Wasser aus dem Schwarzen Meer (etwa 200 km3/Jahr, überwiegend das Wasser der Donau). Das durchschnittliche Niveau des atlantischen Meeresspiegels ist um wenige Zentimeter höher als das des Mittelmeers (3 cm im Juli, 11 cm im Januar). Dies reicht aus, um permanent Atlantikwasser in einer Menge einströmen zu lassen, welche das Bodenseebecken innerhalb von zehn Stunden füllen würde. Wäre diese Nabelschnur, von der alles Leben im Mittelmeer abhängt, verschlossen, würde das Mittelmeer innerhalb von 2.000 Jahren ausgetrocknet sein und sich – wie vor sechs Millionen Jahren tatsächlich geschehen – in eine Salzlauge verwandeln. Hat der Strom Gibraltar passiert, bleiben die Gezeiten aus, deren Rhythmus das Leben an der Atlantikküste so sehr bestimmen. Nur in seichten Gegenden, wie in Venedig oder dem Golf von Gabès und der Großen Syrte, sind steigende und fallende Wasserspiegel zu beobachten. In der Straße von Messina, zwischen Sizilien und der italienischen Halbinsel, sind kalte Strömungen von Tiefenwasser Ursache jener Strudel, die Homer zum Motiv der lebensgefährlichen Charybdis in der Odyssee inspirierten und selbst Schwert- fische zum laichen aus der offenen See anlocken. Am Meeresboden ermöglichen die Strömungen die Ansiedelung von großen Braunalgen-Tangen, welche eher zu Bildern passen, die wir vom Atlantik her gewohnt sind.

6. Die Länge der Mittelmeer-Küstenlinie übertrifft den Erdumfang

Entfaltet wie der Darm einer Seekuh ergibt sich eine Küstenlinie von 46.000 km Länge. Der weitaus größte Teil dieser Distanz erstreckt sich am Nordrand des Mittelmeers mit seinen buchtenreichen, verwinkelt verlaufenden Küstenzonen. Etwa zwei Drittel der Mittelmeerküsten sind felsig. Solider Untergrund ist für viele Meerestiere lebenswichtig. Denn im Gegensatz zu Landtieren sind sie lebenslang fest mit ihm verbunden. Ein Drittel der Felsenküste entfällt auf Inseln. Nimmt man als Schwellenwert 0,1 km2, kommt man auf ungefähr 360 Inseln, die meisten sind kleiner als 100 km2, dazu tausende kleine Felsen und Riffe. Inseln entstehen durch die Kräfte, welche die Ränder der Eurasischen Platte heben und brechen sowie der damit einhergehenden Vulkantätigkeit.

Besonders in der Ägäis und der Adria verwischen sich an vielen Stellen die Unterschiede zwischen Inseln und Festland. Die Tektonik, die das Mittelmeer und seine nördlichen Ränder formte, wirkte zum Nachteil der afrikanischen Küste. Es gibt dort wenige Buchten und es fehlen Inseln. Der Südrand des Meeres ist damit zwar ärmer an zerklüfteten Felsküsten, wie sie für die festsitzende Meeresfauna und -flora notwendig sind, dafür aber gibt es auf den sandigen Meeresböden vor Tunesien und Algerien (immer noch) große Bestände der ökologisch bedeutsamen Seegraswiesen. Insgesamt ist die mediterrane Welt von einer extremen Fragmentierung seiner Landschaften – auch unter Wasser – und der Verbindung (= Konnektivität) seiner Teilregionen über Meerengen und Strömungen geprägt. Diese geo- und hydrologischen Besonderheiten verleihen dem Mittelmeer Modellcharakter; es ist gleichsam ein Miniozean, der Ozeanographen und Meeresbiologen als Reagenzglas dient: Schleichend verlaufende Prozesse wie Erwärmung und Klimawandel, die Entstehung neuer Arten oder die Verdrängung der einheimischen Fauna durch Neueinwanderer, machen sich hier schneller bemerkbar als andernorts.

7. Die biologische Vielfalt des Mittelmeers ist alles andere als »trist«

Obwohl das Mittelmeer als nährstoffarm (oligotroph) gilt, darf daraus keine Verarmung seiner Meereswelt abgeleitet werden. Das Gegenteil ist der Fall. Nur die wirtschaftlich interessanten Speisefische treten nicht in den Massen auf, wie sie etwa der Nordatlantik zu bieten hat. Tatsächlich ist es ein Brennpunkt (»Hotspot«) der biologischen Vielfalt (Biodiversität). Mit den Gewässern Australiens und Japans rangiert es immerhin auf den ersten Plätzen unter den 25 weltweit wichtigsten marinen Ökobrennpunkten (»Census of Marine Live«: www.coml.org). Bis heute sind aus dem Mittelmeer über 8.000 Tier- und 1.500 Algen-Arten bekannt; werden auch Bakterien und andere Einzeller berücksichtigt, kommt man auf über 12.000 registrierte mediterrane Arten.

Die Dunkelziffer ist mit Sicherheit sehr viel höher, denn jedes Jahr werden neue Spezies entdeckt. Hinzu kommen die über 1.000 bisher sicher nachgewiesenen Immigranten aus dem Roten Meer. Innerhalb des Mittelmeers ist die Biodiversität ungleich verteilt. Es besteht ein auffälliges West-Ost- und Nord- Süd-Gefälle. Aus dem Westlichen Becken sind gegenüber dem östlichen etwa doppelt so viele Tierarten bekannt. Die arten- reichste Ökoregion ist das zentrale West-Mediterran. Den Ostteil betreffend, besteht die höchste Artenvielfalt in der nördlichen Ägäis, die geringste im Levantinischen Becken (vom Libanon bis Syrien). Trotz seines geringen Anteils am Gesamtvolumen (0,32 %) und der Gesamtfläche (0,82 %) aller Ozeane, stellt das Mittelmeer über 7 % aller weltweit bekannten marinen Arten. Es handelt sich um einen Durchschnittswert, der für verschiedene Tier- und Algengruppen unterschiedlich ausfällt. Mediterrane Manteltiere erreichen mit 18% den höchsten, die Stachelhäuter mit etwa 2 % den niedrigsten prozentualen Anteil an allen bekannten Arten ihrer Tierstämme. Beachtlich ist ferner die große Vielfalt mediterraner Braunalgen; sie kommen auf einen Anteil von ungefähr 17% aller beschriebenen Spezies. Selbst aus der Gruppe der Blütenpflanzen, die im Meer gerade mal durch 50 Seegras-Arten repräsentiert sind, gibt es immerhin fünf mediterrane Vertreter. Zudem verdankt das Mittelmeer aufgrund seiner abgeschlossenen Lage einen bemerkenswert hohen Anteil an endemischen Arten. Endemit zu sein, bedeutet Exklusivität. Als solche werden Gruppen von Organismen (Arten oder Gattungen) bezeichnet, die nur in einem begrenzten Gebiet vertreten sind und nirgendwo sonst auf der Erde vorkommen. Bekannte Beispiele aus dem Mittelmeer sind das Seegras Posidonia oceanica, Algen der Gattung Cystoseira und die Fächerkoralle Paramuricea clavata. Die üppige Artenvielfalt sowie die hohe Endemismus-Rate sind ein Zeichen günstiger Lebensbedingungen und hoch strukturierter Lebensräume.

Beides resultiert in vielen deutlich voneinander unterscheidbaren Lebensgemeinschaften (Biozönosen). So nennen Ökologen die Gemeinschaft aller Tiere und Pflanzen, die zufällig oder zielstrebig sich in Folge ähnlicher Ansprüche an die Umwelt oder aufgrund enger biologischer Beziehungen in einem Lebensraum zusammenfinden. Im Mittelmeer beschreiben Fachleute bis zu 200 unterschiedliche Biozönosen, je nachdem, welchen Kriterien der Differenzierung oder welchen räumlichen Maßstäben man folgt. Nur die ökologisch bedeutsamsten und die für Taucher attraktivsten werden hier berücksichtigt. Hinzu kommt, dass aufgrund seiner wechsel- haften und spannenden Entstehungsgeschichte (wir werden sie weiter unten kurz rekonstruieren), einige Mittelmeerarten sehr überraschende verwandtschaftliche Beziehungen zu Tier- und Pflanzengruppen aus weit entfernten Regionen, wie dem Indopazifik haben. Das bedarf einer Erklärung, stellen sich den Organismen doch scheinbar unüberwindliche Barrieren in den Weg, wie die Landenge von Suez oder die Südspitze Afrikas, dessen Wassertemperatur viel zu kalt ist, um Wärme liebenden Tieren den Übergang vom Indischen Ozean in den Atlantik zu gestatten.

8. Einwanderung und Tropikalisierung verändern das Mittelmeer

Bereits vor vielen Millionen von Jahren war die Region, als ursprünglicher Teil des tropischen Urozeans Tethys, der Knotenpunkt für Lebewesen aus dem kalt-gemäßigten und subtropischen Atlantik mit jenen aus dem tropischen Indopazifik. Das andauernde Gezerre und Geschiebe der umliegenden Kontinente setzten dem Urmeer Tethys und ihren Bewohnern massiv zu. Nach und nach reduzierten sie das Meer auf seine heutigen Umrisse. Wassermassen – mal kälter mal wärmer – kamen und gingen; und mit ihnen immer wieder neue Tier- und Pflanzen- arten. Seit 1869, dem Jahr der Fertigstellung des Suez-Kanals, kommuniziert das mediterrane Kerngebiet wieder mit dem Roten Meer. Damit wurde eine Verbindung zum indo-pazifischen Raum geöffnet, die seit wenigstens 13,5 Millionen Jahren dicht verschlossen war, nachdem Afrika/Arabien mit Eurasien in Kontakt kam. Der Wasseraustausch über den nur 120 Meter breiten und 15 Meter flachen Suez-Kanal ist eher vernachlässigbar. Ein leichtes Gefälle – die Wasseroberfläche des Roten Meers liegt um 25–40 cm höher als die des Mittelmeers – sorgt dafür, dass das Wasser im Kanal gemächlich westwärts fließt.

Die biologischen Konsequenzen sind jedoch erheblich. In immer größerer Zahl folgen Rote Meer-Arten dem West-Strom. Zwei Barrieren, die den Exodus in den ersten Jahrzehnten nach der Fertigstellung des Kanals verhindert hatten, existieren heute nicht mehr: i) Der ursprünglich hohe Salzgehalt der zwischengeschalteten Bitterseen hat sich durch Verdünnung weitgehend normalisiert (um 1870: 169 psu1, 1898: 58 psu, heute – je nach Jahreszeit: 41–45 psu; zum Vergleich: Mittelmeer: 36–39 psu, Rotes Meer: 41–42 psu, Atlantik: 36 psu, Ostsee: 2–30 psu). ii) Mit dem Bau des Assuanstaudamms (1966) fließt der reduzierte Strom des Nils nicht mehr bis zum Westteil des Suez-Kanals, wo er in den Zeiten davor gleichsam einen Pfropf aus Brackwasser (30 psu) gebildet hat. Vor 1966 versperrte er den an die hohe Salinität des Roten Meers angepassten Tieren und Pflanzen den Weg ins Mittelmeer (der Damm veränderte zudem das Ökosystem des östlichen Mittelmeers, weil weniger Nährstoffe eingeleitet werden). Diese Situation hat sich vergleichsweise dramatisch verändert. Bis heute konnten über 1.000 Arten des Roten Meers die Neubesiedelung des Mittelmeers in Angriff nehmen. Dies erfolgte z. B. aktiv schwimmend und krabbelnd oder als blinder Passagier im Ballasttank von Schiffen.

Nach dem Erbauer des Suez-Kanals werden sie als »Lesseps ́sche Immigranten« bezeichnet. Den umgekehrten Weg gingen nur wenige. Die Öffnung des Suez-Kanals im Jahre 1869 fiel mit dem Beginn der menschengemachten Zunahme der durchschnittlichen Wassertemperatur zusammen. Sie betrug allein im Verlauf der letzten drei Jahrzehnte immerhin 1–2,5° C und ist eine der wichtigsten Ursachen für die erfolgreiche Verbreitung tropischer Einwanderer im wärmer werdenden Mittelmeer. Wir sind somit Zeitzeugen der beginnenden »Tropikalisierung« des Mittelmeers, d. h. der Veränderung von gemäßigten hin zu eher tropischen Temperaturverhältnissen. Meeresbiologen sprechen bereits von der beginnenden »Regeneration« der Tethys-Fauna.

Könnten in einer nicht allzu weit entfernten Zukunft zwischen Gibraltar und Haifa, wie schon zu Zeiten der Tethys, wieder riffbildende Korallen heimisch werden? Dazu wäre im Jahresdurchschnitt eine Temperatur von 20–22°C notwendig. Zumindest im Levantinischen Becken ist mit einer durchschnittlichen Wassertemperatur von über 18°C eine wesentliche Voraussetzung für die härtesten Riffkorallen gegeben, wie z. B. Porites nodifera, die es bei diesen Temperaturen selbst im nördlichsten Persischen Golf aushält. Hätte 1671, zur Zeit der »Kleinen Eiszeit«, Gottfried Wilhelm Leibniz mit seinen Plänen zum Bau eines Suez-Kanals beim Sonnenkönig Ludwig XIV Erfolg gehabt, wäre das Mittelmeer weit weniger empfänglich für tropische Neuankömmlinge gewesen als heute.