Einführung
39°08‘N 2°57‘E – Die Tauchgruppe unserer meeresbiologischen Exkursion ist auf dem Weg nach Cabrera, ein als Meeresschutzgebiet ausgewiesenes Archipel. Auf dem Programm steht die Suche nach strauchförmigen Hornkorallen. Sie wollen es schattig und kalt, weshalb sie eine Seltenheit in den warmen, kristallklaren Gewässern Mallorcas wären. Starke Strömung treibt heute Plankton, das ozeanische Grundnahrungsmittel, in allen Größen und Gestalten, von winzigen Einzellern bis hin zu großen Quallen, an den exponierten Felsen des Cap de Llebeig. Goldstriemen, Zahnbrassen und Meerraben auf dem besonnten Felsplateau kümmert das wenig. Sie konzentrieren sich auf das, was in den dichten Algenbeständen am Meeresboden wächst oder kreucht. Selbst dem flüchtigen Tauchtouristen fällt auf: Hier im Schutzgebiet gedeiht nicht nur der Algenwald üppiger und vielfältiger als einige Seemeilen nördlich an der Ostküste Mallorcas, auch die Fische sind größer, kräftiger und frei von Hautparasiten. Etwas tiefer, am Beginn einer schattigen Steilwand, verändert sich die Szenerie. Massenhaft umgeben uns kleine Mönchsfische und Gelbstriemen. Auf sie wirkt der Planktonsegen stimulierend. In ungeordneter Formation stehen sie in der Strömung, höchst agil nach vorbeidriftenden Kleinstlebewesen schnappend. Selbst die wenig nahrhaften Rippenquallen werden attackiert. Plötzlich verdichten sich die einzelnen Fischchen zu einer dunklen Wolke, die in den Schutz einer zerklüfteten Steilwand abtaucht. Nur einen kurzen Moment später wird klar warum: Vom reichen Nahrungsangebot angelockt, tauchen kapitale Zackenbarsche und eine Gruppe nervöser Bernsteinmakrelen auf. Aus dem blauen Wasser rückt eine silbrig schimmernde Wand näher. Sie entpuppt sich als beeindruckend großer Schwarm stromlinienförmiger Barrakudas. Die Goldstriemen grasen stoisch weiter. Sie haben nichts zu befürchten; für Barrakudas sind sie als Beute zu groß. Was kleiner ist, verzieht sich oder bildet einen dichten Schwarm, um als Einzelziel in der Masse unterzutauchen. Eine weitere Besonderheit erregt unsere Aufmerksamkeit: Ein tropischer Flötenfisch jagt ebenfalls im Schutz der Felswand. Inmitten dieses dichten Nahrungsnetzes fühlt sich die Tauchgruppe wie in einem Korallenriff. Aber der Anschein trügt, tatsächlich tauchen wir im Mittelmeer.
Das morgendliche Fressen lässt uns an den berühmten Ausspruch des Heraklit von Ephesos (341–270 v. Chr.) denken, »panta rhei« – alles fließt. Nirgendwo hier am Cap ist das Leben statisch. Und der Flötenfisch aus dem Roten Meer erinnert uns daran, dass die Illusion, in einer stabilen Umwelt zu leben, der Wirklichkeit nicht Stand hält.
Er verdankt seine Ausbreitung ins Mittelmeer Ferdinand de Lesseps, dem Erbauer des Suezkanals. Seit 1869 verbindet diese Wasserstraße die für Millionen von Jahren voneinander getrennten Meere wieder miteinander und sorgt für einen Austausch von Arten. Nachdem die Tauchgruppe das Spektakel der morgendlichen Futterkrippe hinter sich gelassen hat, beginnt sie mit der Untersuchung des tiefergelegenen Abschnitts der Steilwand.
Erst die Beobachtung im Schein der Unterwasserlampen enthüllt auch hier buntes Leben und eine überwältigende Zahl von Organismen mit einmaligen Anpassungen an ihren marinen Lebensraum. In kleinen Felsnischen recken sich Tentakel, Fangarme und kaminartige Schlote in die Höhe. Es wird gefiltert, was das Zeug hält, um ebenfalls am reichen Planktonsegen teilzuhaben. Das Spektrum der Arten deckt nahezu alle bekannten Tierstämme ab. Es reicht von Schwämmen, Korallen und Würmern bis hin zu Moostierchen, Seesternen und Manteltieren. Was ihre Farbenpracht angeht, müssen sie den Vergleich mit tropischen Verwandten nicht scheuen. Zugleich repräsentieren sie fremdartig wirkende Baupläne, die wir Landbewohner eher mit denen der Pflanzen assoziieren. Zurück am Boot sind wir deshalb keineswegs erstaunt, dass selbst erfahrene Taucher Leptogorgia sarmentosa, die wir zu guter Letzt weiter draußen, vergleichsweise tief in der Strömung stehend, doch noch gefunden haben, als »Pflanze« titulieren. Aber die »Orangene Fächerkoralle« ist ein Tier und prominenter Bewohner der mediterranen »Tierwälder« (Animal Forests). Zugegeben, große Artenvielfalt und hohe Abundanz (Anzahl der Individuen einer Art), wie wir sie rund um das Cabrera Archipel erleben, sind längst nicht mehr an allen Tauchplätzen des Mittelmeers vorhanden. Unter Tauchern herrscht oft die Ansicht, die mediterrane Fauna und Flora erscheine im Vergleich zu tropischen Korallenriffen vielerorts trist und karg. »Ein Korallenriff kann man nicht eigentlich beschreiben, man muss es gesehen haben, um es ganz zu würdigen«, vermerkt der Naturforscher Ernst Haeckel vor über einhundert Jahren in seinem Reisetagebuch. Wir meinen, dies gilt erst recht für die Meereswelt des Mittelmeers; man muss gleichwohl gezielter nach ihren Schönheiten suchen und genauer schauen. Doch dann lässt sie uns ebenfalls staunen und für einen Moment den Lärm der Straße vergessen.